Über die Renaissance des Designs

Herr Chiave, es galt bislang immer der Designleitsatz „form follows function“. Inwieweit verschiebt sich dieser Fokus jetzt, wo Nachhaltigkeit immer wichtiger wird?
Meiner Meinung nach ist die Idee, dass Design der Form folgt, übertrieben und lässt viel wichtigere Aspekte außer Acht. Für mich geht es beim Design um Emotionen, Erinnerungen, Träume, Tradition, Kultur und Handwerk – das sind die Dinge, die das Herz ansprechen, statt den Verstand. Designer sind Problemlöser. Wenn wir das Leben der Menschen verbessern, können wir auch das Wohlergehen unseres Planeten verbessern. Daher wird Nachhaltigkeit, und insbesondere die Kreislaufwirtschaft, für Designer immer wichtiger. Wir Menschen sind dafür verantwortlich, wie wir leben, konsumieren und auf unsere Umwelt reagieren. Aber als Designer haben wir eine noch größere Verantwortung, denn wir sind diejenigen, die neue Dinge erschaffen. Neue Dinge zu erschaffen ist jedoch nicht unbedingt immer das Klügste, vielleicht ist „neu“ in der heutigen Welt nicht immer der richtige Ansatz. In gewisser Weise erleben wir gerade eine Art Renaissance des Designs.
Was bedeutet Kreislaufwirtschaft im Zusammenhang mit Design?
Früher oder später wird es eine natürliche Wertschätzung und ein Bewusstsein für Produkte geben, die auf ihre eigene Art und Weise recycelbar und verantwortungsvoll sind. Wir versuchen also, Dinge wiederzuverwenden, zu recyceln und neu zu gestalten. Es geht darum, den Schaffensprozess neu zu überdenken. Im Marcel Wanders Studio haben wir zum Beispiel die Flos Skynest Pendelleuchte entworfen. Es handelt sich dabei um ein zeitloses Designobjekt, das die Tradition der handwerklichen Flechtkunst mit innovativen Beleuchtungstechniken verbindet. Jedes Leuchtelement wird zwischen dem zentralen Kern und dem umlaufenden Ring über ein einfaches Stecksystem eingefügt, sodass die Leuchte im Hinblick auf eventuelle Reparaturen leicht auseinandergebaut und recycelt werden kann. Meiner Meinung nach ist dies der Inbegriff eines stilvollen, handgefertigten Produkts, das nachhaltig, ethisch und technologisch innovativ ist.
„Neue Dinge zu erschaffen ist nicht unbedingt immer das Klügste“
Wie können Designer eine wichtige Rolle bei der Förderung einer nachhaltigen Zukunft spielen?
Wir spielen eine entscheidende Rolle dabei! Als Designer richte ich mich immer nach dem Prinzip „weniger und mehr“, also weniger Quantität und mehr Qualität. Das bedeutet, ich versuche, Objekte zu entwerfen, von denen man länger etwas hat. Aber ich denke, die Verantwortung eines Designers ist viel größer als das, was man normalerweise mit Design verbindet. Es geht darum, die Verbraucher zu informieren und zu einer nachhaltigen Lebensweise zu inspirieren. Es reicht nicht aus, darüber zu berichten, was wir mit recyceltem Plastik oder Rohstoffen machen – denn das schränkt die Sache doch sehr ein. Wir wollen die Art und Weise, wie die Menschen ihr Leben leben, verändern und ein nachhaltigeres Kommunikationsverhalten ermöglichen, indem wir Erlebnisse schaffen, die den Konsum nachhaltigerer Objekte, Produkte und Erfahrungen fördern. Durch unsere Arbeit sind wir kollektiv dafür verantwortlich, das Bewusstsein für nachhaltiges Verhalten zu schärfen und zu zeigen, wie man weniger oder besser konsumieren kann.
„Wenn wir alle an einem Strang ziehen, dann kommt der Rest von ganz allein.“
In welcher Beziehung stehen Kunst, Design und Kreislaufwirtschaft?
Durch die Kreislaufwirtschaft wird sichergestellt, dass ein Designerstück über eine lange Lebensdauer verfügt – und das ist großartig! Denn wenn man ein Stück wirklich liebt, wird man es doch auch so lange wie möglich behalten wollen, oder? Vielleicht vererbt man es sogar über Generationen hinweg. Der emotionale Wert macht Designerstücke wie dieses zu einem Evergreen. Ich nenne das emotionale Nachhaltigkeit. Es geht also am Ende tatsächlich darum, einen geschlossenen Kreislauf zu schaffen. Denn beim Design verfolgt man keine gerade Linie aus Schaffensprozess, Produktion, Konsum und Zurschaustellung. Es ist vielmehr ein Kreis. Alles steht in einer Wechselwirkung und ist miteinander verbunden. Und das ist auch der zentrale Gedanke hinter der Installation „The Domino Act“, die ich für Audi für die diesjährige Mailänder Designwoche entworfen habe.
Audi x Milan Design Week
Vom 17. bis 23. April 2023 war Audi bereits zum neunten Mal Teil des weltgrößten Design-Events. Mit seinem Auftritt in Mailand thematisierte Audi verschiedene Aspekte der Circular Economy. Neben der Installation "The Domino Act" von Gabriele Chiave, deren 22 kreisförmig angeordneten Monolithen mit der Umgebung und dem Licht interagierten, stand unter anderem der Audi skysphere concept¹, als Ausdruck einer neugedachten Premiummobilität made by Audi, im Rampenlicht.
¹Bei dem genannten Fahrzeug handelt es sich um ein Konzeptfahrzeug, das nicht als Serienfahrzeug verfügbar ist.
¹Bei dem genannten Fahrzeug handelt es sich um ein Konzeptfahrzeug, das nicht als Serienfahrzeug verfügbar ist.

Wo Sie gerade von Ihrer Installation für Audi sprechen: Können Sie uns mehr über die Idee dahinter verraten?
Es handelt sich hierbei um eine Neuinterpretation des Dominoeffekts. Der Dominoeffekt ist eine von den Vereinten Nationen formulierte Theorie, nach der alle Ressourcen und alle Nachhaltigkeitsprobleme wie Nahrungsmittelknappheit, Umweltverschmutzung, Wasserverunreinigung und Entwaldung eng miteinander verknüpft sind. Demnach sind es also keine singulären Probleme. Wir haben uns jedoch für den Namen „Domino Act“ entschieden, weil dieser positiver besetzt ist. Denn wenn wir alle nur einen kleinen Schritt in Richtung mehr Nachhaltigkeit gehen, unseren Alltag auch nur ein wenig verändern, wenn wir alle an einem Strang ziehen, dann kommt der Rest von ganz allein. Das wird einen Wandel hervorbringen. Im Grunde handelt es sich dabei also um einen positiven Dominoeffekt, wobei es ja kein Effekt ist, sondern ein Akt, ein gemeinsames Handeln. Lasst uns gemeinsam die Welt verändern und zu einem besseren Ort machen.
